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Industrie 4.0: Chancen für Pharma und Medizintechnik

Digitalisierung und Industrie 4.0 sind zwei Schlagworte für einen Trend, der derzeit in allen Branchen zu neuen Prozessen, Abläufen und Geschäftsmodellen führt. Auch Medizintechnik- und Pharmaunternehmen setzen darauf über vernetzte Prozesse effizienter zu werden. Auf der Veranstaltung „GesundheitsINDUSTRIE 4.0 – intelligente Produktion“ gaben Unternehmen einen Einblick, wie und mit welchen Erfolgen sie die Ideen von Industrie 4.0 in ihrem Unternehmen umgesetzt haben.

Für Baden-Württemberg ist die Digitalisierung ein Schwerpunktthema. Auch das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg setzt sich massiv dafür ein, die Digitalisierung der Wirtschaft voranzubringen. "Mit unserer Initiative Wirtschaft 4.0 wollen wir die Chancen, die sich den Unternehmen - vor allem den KMUs in Baden-Württemberg - durch die Digitalisierung bieten, aufzeigen und diese auf dem Weg begleiten. Konkret konzentrieren sich die Förderungen auf die Bereiche "Digital Hubs" und "Digitalisierungsprämie" für KMUs. Ergänzt werden die Maßnahmen durch einen neuen Innovationsgutschein Hightech Digital und eine neue Online-Plattform mit Informationen rund um das Thema", erklärte Dr. Siegfried Jaumann vom Wirtschaftsministerium in seinem Grußwort.

Die BIOPRO Baden-Württemberg als Veranstalter und zentraler Ansprechpartner im Land für Medizintechnik-, Pharma- und Biotechnologie-Unternehmen hatte sich daher vorgenommen, Umsetzungsszenarien und heute schon sichtbare Erfolge im Rahmen der Veranstaltung GesundheitsINDUSTRIE 4.0 zu diskutieren und so Wege aufzuzeigen, wie Unternehmen dieses Thema für sich angehen können. Veranstaltungspartner war die Festo Vertrieb GmbH & Co. KG. Ca. 90 Teilnehmer besuchten die Veranstaltung am 5. Juli 2017 in Esslingen.

Der Mensch steht im Mittelpunkt

Die gute Nachricht vorweg: Nach Aussage von Prof. Dr. Frank Wagner, Fraunhofer IAO, schafft Industrie 4.0 effektiv Arbeitsplätze und ist keine Rationalisierungsmaßnahme. Daher ist es wichtig, die Qualifizierung der Mitarbeiter parallel zur Etablierung von Prozessen zu betreiben. Lebende Lernfabriken wie die ARENA2036 für die Automobilindustrie als Schulungsorte können dafür einen guten Beitrag leisten. Deren Aufbau sei laut Wagner auch für die Gesundheitsindustrie denkbar. Klaus Stark von der Pilz GmbH & Co. KG ergänzte: Zentral sei ein gutes Management der Veränderungsprozesse im Unternehmen. Erfolg in der digitalen Welt beruhe viel mehr auf Motivation, als dass es eine Frage von Schulungen sei.

Industrie 4.0 ist kein Produkt, das ich käuflich erwerben und im Unternehmen implementieren kann. "Jeder muss sich den Prozess "Industrie 4.0" für sein Unternehmen selbst erarbeiten," so Gerald Burandt von B. Braun Aesculap. Die Vernetzung und damit die Mensch-Maschine-Schnittstelle ist im Schwerpunkt nicht eine Frage von Hardware, sondern von Software. Dies betonte auch Klaus Stark: "Auf der Hannover Messe hat sich klar gezeigt, das dies kein Thema für die Schnittstelle Vertrieb/Einkäufer ist, auch wenn das Thema Industrie 4.0 dort einige Messehallen dominiert hat. Für die Implementierung dieser Themen ist das strategische Management gefragt." Uli Kuchenbrod gab einen Einblick in das Vorgehen bei der Umsetzung von Industrie 4.0 bei der Vetter Pharma-Fertigung GmbH. Bei der Einführung und Weiterentwicklung gibt es keine "Silothemen", sondern das Unternehmen muss ganzheitlich und vernetzt daran arbeiten. Im regulierten und validierten Pharmaumfeld sei es laut Kuchenbrod nicht ganz einfach, die Akzeptanz für die Veränderung zu schaffen, aber auch die Pharmaindustrie wandle sich. Ein Tipp: Vom VDMA gäbe es sehr gute Checklisten, die frei verfügbar sind und bei der Vorbereitung und Strukturierung der internen Workshops helfen.

Alle Redner waren sich einig: Die Digitalisierung hat eine hohe Relevanz für die betriebliche Ausbildung im Unternehmen. Und auch der Personalabteilung kommt eine wichtige Rolle zu, um Mitarbeiter mit den passenden Qualifikationen an Bord zu holen.

Mensch-Roboter-Schnittstelle

Im Rahmen von Industrie 4.0 ist die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Robotern zu organisieren. Dirk Thamm von der FAUDE Automatisierungstechnik GmbH zeigte die Chancen auf, die das Thema für den Menschen bringt: "Man kann den Mitarbeitern die Angst nehmen, dass der Roboter ihnen die Arbeit wegnimmt. Roboter entlasten die Mitarbeiter von körperlich anstrengenden, monotonen Tätigkeiten. FAUDE legt seinen Fokus auf die Sicherheit des Menschen. Der Roboter muss erkennen, wo sich der Mensch im Raum befindet, und automatisch stoppen, bevor es zu einer Kollision kommen kann. Hier hat sich laut Thamm im Bereich Normierung auch schon einiges getan.

Vernetzung zu intelligenten Systemen

Die Vernetzung von Menschen, Maschinen und Objekten zu intelligenten Systemen bringt hohe Sicherheitsanforderungen mit sich. "In Europa sind wir derzeit führend, was die technische Sicherheit angeht, die USA dagegen in Bezug auf die juristische Absicherung", so Klaus Stark. Die Fachleute für safety und security wie bei Pilz gehören damit zu den "enablern" für die Industrie 4.0 und haben sich mit neuen Geschäftsfeldern auf diesen wachsenden Markt eingestellt. "Wer seine Hausaufgaben bei der Automatisierung und im Lean Management gemacht hat, für den ist der nächste Schritt, die Umsetzung der Autonomisierung von Prozessbereichen und deren Interaktion, machbar", so Klaus Stark. Noch sind allerdings einige Hürden zu überwinden: Das Umstellen auf vernetzte, intelligente Systeme, die eine agile Produktion heute mit sich bringt, steht im Widerspruch zu den Anforderungen an die Medizintechnik-Unternehmen in puncto Sicherheit und Zertifizierung. Hier ist die Politik gefragt, einen rechtssicheren Rahmen zu schaffen.

Das Medizintechnik-Unternehmen B. Braun Aesculap ist mit seinen weltweiten Produktionsstandorten schon sehr weit in Richtung Prozessdigitalisierung vorangeschritten. Bei den Themen "Intelligenz im Produkt" und "Intelligenz in der Produktverfolgung" sind allerdings laut Gerald Burandt noch einige Probleme zu lösen. So sei es derzeit noch nicht möglich, ein Implantat mit einem elektronischen Trackingsystem zu versehen, da jede Veränderung bei einem Medizinprodukt, das im Körper verbleibt, zulassungsrelevant ist. Auch bei chirurgischen Instrumenten mit ihren hohen Anforderungen an Hygiene ist eine Produktverfolgung mittels zum Beispiel RFID-Kennzeichnung derzeit kaum möglich, da diese die gründlichen Reinungsprozeduren kaum übersteht.

"Daten sind das neue Öl"

Industrie 4.0 ist laut Frank Wagner weniger ein Effizienz-Thema, sondern ein neues Geschäftsmodell im Dienstleistungsbereich. Als Beispiel führt er das Unternehmen Trumpf an, das inzwischen nicht mehr nur Hardware, sondern auch Software und Connectivity anbietet und damit nicht mehr nur Maschinen, sondern digitale "Ökosysteme" verkauft. Dies unterstreicht auch Klaus Stark: "Connectivity, d.h. das Management von dezentraler Intelligenz bringt neue Modelle zur Zusammenarbeit mit sich. Bisher hat sich jeder Mittelständler sein eigenes Ökosystem mit Zulieferern und Kunden aufgebaut. Das werden wir so nicht halten können. Wir werden mehr und anders zusammenarbeiten müssen. Damit rücken die Datenschnittstellen und deren Ausgestaltung in den Fokus."

Dr. Frank Jacob, Leiter der Project Unit MedLab beim Gastgeber Festo, beschrieb anhand der Prozesskette "Produkt + Intelligenz + Kommunikation + Vernetzung", wie Festo Unternehmen bei der intelligenten Vernetzung unterstützt. Am Beispiel eines Ventils lässt sich der Fortschritt gut zeigen: "Wo in der Vergangenheit 50 verschiedene Ventilbausteine gebraucht wurden, können wir heute auf Basis eines intelligenten Ventilsystems, gesteuert durch eine App, alle Funktionen abdecken", so Jacob. Auch langwierige Umbauarbeiten bei Änderungen des Produktionsprozesses können entfallen, da man - gesteuert durch die Programmierung - mit demselben System, auch bei veränderten Prozessparametern, weiter arbeiten könne. Dies konnte man auf den von Festo organisierten Marktplätzen hands-on erleben. Weitere Themen der Marktplätze waren "Virtual Reality", "Risikomanagement in medizinischen Anwendungen", "Pneumatische und elektrische Antriebssysteme" sowie "Didactic".

"Unser Veranstaltungspartner Festo ist selbst ein gutes Beispiel: Weite Bereiche der Fertigung bei Festo sind heute schon in einer automatisierten und autonomen Weise organisiert, sodass für die Mitarbeiter Freiräume entstehen, kreativ an Innovationen weiterzuarbeiten," beschreibt Prof. Dr. Ralf Kindervater seine Eindrücke der Werksführung, die im Anschluss an die Veranstaltung stattfand.

"Die Best-Practice-Beispiele auf der heutigen Veranstaltung haben gezeigt, dass Industrie 4.0 auch in der Gesundheitsindustrie schon in einigen Unternehmen angekommen ist und zum Erfolg der Unternehmen beiträgt," zieht Kindervater von der BIOPRO eine positive Bilanz der Veranstaltung und will damit weitere Unternehmen ermuntern, die Chance für sich zu nutzen.

Quelle: BIOPRO Baden-Württemberg