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TraFoNetz: Automobil-Gipfel Nordschwarzwald beschwört Höhen und Tiefen der Zukunftsgestaltung

„Verdammt nochmal! Wenn die Transformation im Automobilbereich gelingt, dann ist die Region Nordschwarzwald tot.“ Professor Bernhard Kölmel wurde bei der jüngsten Beiratssitzung der größten regionalen Gemeinschaftsinitiative Transformationsnetzwerk Nordschwarzwald (TraFoNetz) mit diesem scheinbaren Widerspruch deutlich. Mit dem TraFoNetz-Veranstaltungsort in der Goldstadt war Symbolcharakter verbunden. Denn dort transformierte die darbende Schmuckindustrie mit Beginn der 70er Jahre in neue Geschäftsfelder wie Medizintechnik oder Automotive. Kölmel ist der Meinung: „Wir müssen das neben der reinen Transformation im Automobilbereich noch einmal machen.“ Soll heißen: „Die Region muss auch neue Branchen suchen.“

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Sitzung des Transformationsbeirats von TraFoNetz im Pforzheimer Panoramasaal der Sparkasse Pforzheim Calw. Quelle: Gerd Lache

Oben im Turm der Sparkasse Pforzheim Calw entwickelte sich die TraFoNetz-Beiratssitzung als ausgewiesener Automobil-Gipfel der Region für die Zulieferunternehmen der Branche. Landräte, Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister, Wirtschaftsförderer, Unternehmensvertreterinnen und Unternehmensvertreter, die Strategieberaterinnen und Strategieberater von OCO Global und Wissenschaftler sowie Vertreterinnen und Vertreter von Instituten und Institutionen debattierten in Präsenz und Online unter der moderierenden Anleitung von Jochen Protzer, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Nordschwarzwald (WFG).

Die WFG hat jenes Projekt TraFoNetz ins Leben gerufen, das nun im regionalen Schulterschluss die Zuliefer-Unternehmen bei der Transformation weg vom Verbrennermotor hin zu alternativen Antrieben und anderen Geschäftsmodellen unterstützen soll. Finanziell gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium.

Und Kölmel als TraFoNetz-Beiratsvorsitzender konnte beim Blick auf den großen Berliner Autogipfel vor kurzem nicht mehr an sich halten. Denn die Gespräche und Aussagen dort gingen seiner Ansicht nach am Thema vorbei. "Viele Unternehmen kämpfen gegen den falschen Tsunami", sagte er. Natürlich sei es wichtig, das Ladesäulen-Problem anzugehen. Aber "der Wandel der Antriebstechnologie ist eine Kleinigkeit gegen den Wandel der bereits stattfindenden Marktveränderungen."

Während sich deutsche Fahrzeughersteller wie beispielsweise Volkswagen mit Verkäufen von E-Autos im Hauptabsatzmarkt China lediglich im sehr niedrigen einstelligen Prozentbereich bewegten, drängten die Elektrofahrzeuge aus Asien staatlich massiv protegiert mit voller Wucht auf die Weltmärkte. Für die Zulieferbetriebe im Nordschwarzwald bleibe da kaum ein Krümel an Aufträgen übrig. Denn die Komponenten würden weltweit nach Maßgabe des günstigsten Preises eingekauft. Diese Plattformökonomie sei eine Herausforderung, an der in der Vergangenheit bereits Firmen der Computer-Industrie zugrunde gegangen seien.

Nicht nur das: Eine riesige Bandbreite an E-Fahrzeugen von neuen, innovativen Herstellern rolle bald auf die Straßen und minimiere die Marktanteile der erfolgsverwöhnten deutschen Unternehmen, die sich bisher auf ihre hohe Qualität berufen konnten. Beispiel Saudi Arabien: Der Staat pumpe jährlich rund sieben Milliarden Euro in den Aufbau einer eigenen Fahrzeugindustrie - übrigens mit Unterstützung von BMW-Beschäftigten. Auch in der Türkei wachse eine Autofabrik aus dem Boden. Über diese Entwicklung zeigte sich auch Landrat Helmut Riegger beunruhigt. Er verwies dennoch auf Unternehmen aus seinem Calwer Landkreis, die erfolgreich neue Branchen gefunden hätten.

Keine Sorgen macht sich Kölmel um Zukunftsplayer wie die Transformations-geübte Firma Witzenmann in Pforzheim oder den dreifachen Umsatzmilliardär, das Stiftungsunternehmen Boysen in Altensteig/Nagold, das bereits erfolgreich den Wandel eingeleitet hat. Auch Daimler oder Porsche würden im Luxus-Segment ihren Transformations-Weg machen, zwar mit weniger Verkäufen, aber mit höheren Preisen. Nur für die zahlreichen kleinen und mittelständischen Zulieferer der Region sehe es düster aus. Weniger Autoverkäufe bedeuten geringere Komponenten-Abrufe. Ganz zu schweigen von jenen Aufträgen, die künftig an der Region vorbei auf dem Weltmarkt der Plattformökonomie vergeben werden.

Präzision, eine der Top-Eigenschaften im Nordschwarzwald, sei bei den vergleichsweise einfach gearteten E-Autos nicht gefragt. Ohnehin tolerierten die Kunden die großzügigen Spaltmaße von Tesla & Co. Der einstige Zulieferer-Hotspot Nordschwarzwald könnte bald in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wenn die Unternehmen sich nicht rasch mit neuen Strategien und Geschäftsmodellen, mit alternativen Produkten und Qualifizierung ihrer Mitarbeitenden befassen würden, spitzte der KI- und Automotive-Experte der Hochschule Pforzheim seine Drohkulisse zu.

Offenbar zeigte der provokative Kölmel-Auftritt Wirkung. Die Aufbruchstimmung nach drei aufwühlenden Debatten-Stunden war spürbar. Nagolds Oberbürgermeister Jürgen Großmann bedankte sich für die "klare Sprache" und fügte hinzu, dass das Wohl und Wehe der Zulieferunternehmen bisher an den großen Konzernen hinge. "Der Ansatz müsste also dort oben stattfinden." Die Antwort des mahnenden Professors ist, dass sich die Region sowohl in der wirtschaftlichen wie in der politischen Unterstützung von diesen Konzernen "entkoppeln muss". Denn dort bestimme nicht das Interesse für deutsche Jobs das Handeln, sondern die Höhe des Aktienkurses.

IHK-Hauptgeschäftsführerin Tanja Traub setzt auf die Präzisionstechnik-Kompetenz der Region. Abseits des E-Autos gebe es durchaus Kunden, für die diese Werte wichtig seien. Sie glaube, dass die Unternehmen im Nordschwarzwald die Lage meistern könnten, räumte jedoch ein, dass "uns die Dynamik überrascht hat". Und man dürfe nicht die Fehler der Schmuckindustrie wiederholen, die seinerzeit auf den eigenen Standort und die Konkurrenz nebenan begrenzt gewesen sei: "Die Wettbewerber sitzen nicht in Baden-Württemberg, sondern ganz woanders." Gemeinsam mit dem TraFoNetz-Kompetenz-Team will Traub mit IHK-Workshops den Blick für neue Märkte und Geschäftsfelder erweitern.

Kerstin Gatzlaff, Vorstandsmitglied der Sparkasse Pforzheim Calw, beschwor den Schulterschluss der Region. Es müsse eine gut vernetzte und aktive Allianz geben, denn trotzt der hohen Fachkenntnisse der mittelständischen Unternehmen werde es nicht ohne gegenseitige Unterstützung laufen. TraFoNetz sei eine gute Grundlage dafür.

Stefan Baron, Geschäftsführer der AgenturQ mit IG Metall und Südwestmetall, fasste die Ausführungen von Professor Kölmel in eine "ketzerische Hypothese: Wenn das alles stimmt, was Sie sagen, dann sollten wir hier in der Region nicht mehr auf ein totes Pferd setzten, sondern ein junges Fohlen heranzüchten." Ohne die Mitarbeitenden mitzunehmen funktioniere es jedoch nicht: Qualifizierung sei der Schlüssel, sagte der auf Weiterbildung spezialisierte Geschäftsführer.

Für Annette Hanfstein ist der erste Schritt, dass sich die Unternehmen klar machten, wo sie stehen und wie sie ihre Zukunft gestalten könnten. Erst dann, so die operative Geschäftsführerin der Arbeitsagentur Nagold-Pforzheim, "können wir unsere PS auch wirkungsvoll auf die Straße bringen". Das Thema Fachkräfte müsse aus vielen Perspektiven angegangen werden. Die Leistungen von TraFoNetz für Firmen und Beschäftigte müssten Hanfstein zufolge sichtbarer nach außen getragen werden. Denn eines sei klar: Noch viel mehr Unternehmen der Region müssten den kostenfreien Kompetenz-Support des Transformationsnetzwerks abrufen.

Ein Wirtschaftszweig ist aus Professor Kölmels verbalem Rundumschlag unbeschadet davon gekommen: "Das Handwerk hat die Herausforderungen erkannt und die Weichen gestellt." Die Werkstätten und die Händler hätten sehr früh begonnen, sich zu engagieren, um in die richtige Richtung zu laufen." Für Benedikt Koziol, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Karlsruhe, ist es wichtig, dass ein Unternehmen "eine Vision hat, wohin die Reise geht. Das kann sehr spannend sein."


Quelle: Transformationsnetzwerk Nordschwarzwald